rp18-Vortrag: 11 Fragen und Antworten zur Kritik von Serien

„Wir brauchen eine neue Serienkritik“ – so lautete der Titel der Session, die ich gemeinsam mit Lars Weisbrod, Feuilleton-Redakteur bei „Die Zeit“, auf der Media Convention der re:publica 18 gehalten habe. Der folgende Text ist die Verschriftlichung unseres Vortrags, allerdings ergänzt um Aspekte, die wir aus Zeitgründen weggelassen haben. Außerdem stammt die letzte Frage aus dem Publikum, die haben wir hier mit aufgenommen. Wir haben uns beim Vortragen abgewechselt und hier im Text dazugeschrieben, welcher Teil von wem stammt.


(via Giphy)

Ulrike: Wie genau eine neue Serienkritik aussehen muss, können wir jetzt auch noch nicht sagen. Aber wir sind der Meinung, dass sich diejenigen, die sich journalistisch mit Serien beschäftigen, mehr darüber Gedanken machen müssen, was es eigentlich bedeutet, über eine Serie zu schreiben. Und dazu soll unsere Session heute einen Anstoß geben. Wir werfen 10 Fragen auf, die wir in dem Zusammenhang wichtig finden, erklären, was wir damit meinen und wie wir dazu stehen. Und ja, es gibt da keine reine Wahrheit – Ihr werdet sehen, Lars und ich, wir sind uns bei einigen Fragen uneinig. Aber: Darüber nachzudenken, mit Kolleginnen und Kollegen darüber zu diskutieren, sich eine eigene Meinung zu bilden, eine eigene Haltung zu entwickeln – das führt dazu, dass das Schreiben über Serien besser wird.

Frage 1: Warum müssen wir überhaupt über Serienkritik reden?

Ulrike: Man könnte ja sagen: Kritik ist Kritik, egal ob über Film oder Literatur. Wer das meint, sollte sich mal vor Augen führen, was es tatsächlich bedeutet, eine Serie zu gucken: Ich setze mich viele, viele Stunden – zusammengerechnet sogar viele Tage – einer Geschichte aus, die mich auf vielen Ebenen anspricht: intellektuell, emotional, visuell, akustisch. Ich lerne Figuren kennen, fiebere mit ihnen mit, verabscheue sie, feuere sie an, schimpfe sie aus. Ich begebe mich mit den Figuren in Situationen, die in meinem Alltag nie vorkommen würden. Ich lerne Dinge über meine Gesellschaft, über die ich normalerweise nicht nachdenken würde. Und wenn eine Folge vorbei ist, will ich am liebsten sofort weiterschauen. Weil gerade etwas Dramatisches passiert ist, weil ich gerne in der Nähe dieser oder jener Figur bin, weil ich einfach wissen möchte, wie es weitergeht. Und all das geht in vielen Fällen über Jahre hinweg so, weil die Serie über mehrere Staffeln erzählt wird, die im Jahresabstand veröffentlicht werden.
Es entsteht tatsächlich eine besondere Beziehung zu einer Serie, oft bleibt sogar eine gewisse Leere zurück, wenn eine Serie endet. Wie intensiv die Beziehung ist, hängt von der Serie ab. Und Seriengucker*innen schauen ja nicht nur eine Serie, sondern meist viele verschiedene. Also viele Beziehungen, die hier immer wieder aufgebaut werden, in denen all das mitschwingt, was ich eben angerissen habe.
Natürlich gibt es Überschneidungen zu Film und Literatur, aber um all dem gerecht zu werden, was das Wesen des Mediums Serie ausmacht, ist es nötig, sich Gedanken über Serienkritik zu machen.


(via Giphy)

Frage 2:  Was will ich mit meinem Text über Serien eigentlich bezwecken?

Lars: Will ich den Leser*innen Empfehlungen aussprechen? Oder will ich ein Kulturprodukt intellektuell einordnen, Bezüge aufzeigen? Zugespitzt formuliert: Bewerte ich mit Daumen hoch und Daumen runter, mit Punkten in den Kategorien “Erotik” und “Action”? Oder zitiere ich Adorno und betreibe Ideologiekritik? Diese Fragen müssen sich heute alle Kritiker*innen stellen, vor allem aber die Serienkritiker*innen. Klar: Eine einfache Antwort gibt es nicht. Das Feuilleton bespricht Serien anders als „bento“, Fachmedien berichten anders als Publikumsmagazine. Aber: Welchen Mehrwert können Profi-Kritiken für die Leser*innen noch bieten, seit Twitter und Facebook und Reddit bersten voller Meinungen und Analysen und Theorien zum Qualitätsfernsehen? Ich persönlich denke: Zwischen all den Profi-Fans und Hobby-Kritikern im Netz, den Algorithmen und Empfehlungsfunktionen braucht es die reine Dienstleister-Serienkritikerin, den reinen Dienstleister-Serienkritiker immer weniger. Als Ideologiekritikerin oder Ideologiekritiker aber braucht man sie schon. Bei “Game of Thrones” will ich nicht wissen, wie spannend irgendwer eine Folge fand, sondern ich will dass mir jemand die geschichtsphilosophischen Bezüge offenlegt. Serien sind als popkulturelle Epen wie gemacht für Feuilleton-Gedanken – das ist unsere Chance zu zeigen, dass Kulturkritik immer noch mehr ist als nur: Daumen hoch, Daumen runter. Für einen Feuilletonisten wenig überraschend, aber ich würde mir deshalb wünschen: Mehr Feuilleton bei der Serienkritik, mehr Adorno-Zitate in den Texten zu “Game of Thrones”.
Ulrike: Ich bin nicht der Meinung, dass es ein Entweder-Oder geben muss, also dass Kritiker*innen nicht auch Dienstleister*innen sein können. Ich bin eine große Anhängerin davon, dass man sich vorher überlegt, was man mit seinem Text erreichen will und kann. Nicht jede Art Text braucht Adorno und nicht jede Art Serie kann einen Adorno-Vergleich vertragen. Denn gerade wegen Twitter, Facebook, Reddit und den vielen, vielen Serienjunkies mit sehr persönlichen Geschmäckern da draußen braucht es den Profi, der die Serien einordnet, der die großen Linien im Blick hat – und die oder der einem gut begründen kann, warum diese oder jene Serie das Anschalten lohnt. Die oder der aber auch weiß, wann es sinnvoll ist, Adorno auszupacken und wann es sinnvoll ist, Adorno ruhen zu lassen.

Frage 3: Warum schreiben wir eigentlich immer nur einen Text zum Start einer neuen Serie?

Ulrike: Wie ich am Anfang gesagt habe: Serien wirken nicht nur einmal, sondern immer wieder, Folge für Folge, Staffel für Staffel. Und wenn man sich das mal genauer überlegt, ist es eigentlich unverständlich, warum in deutschen Redaktionen nur selten eine Begleitung stattfindet. Oft wird zum Start einer Serie eine Kritik veröffentlicht – und das wars. Das hilft den Zuschauerinnen und Zuschauern vielleicht, damit sie wissen, ob sie die Serie einschalten wollen oder nicht. Aber das ist keine angemessene Auseinandersetzung mit etwas, das so tief ins Leben der Menschen eingreift, das gesellschaftsrelevante Themen aufwirft, das den Zeitgeist spiegelt und zugleich Identifikationsanker ist. Und mit Begleitung meine ich hier nicht zwangsläufig, dass ein Recap zu jeder Folge nötig ist – auch wenn die Amerikaner das mittlerweile zur eigenen Kunstform entwickelt haben. Ich meine mit Begleitung: wichtige Diskussion aufgreifen, Entwicklungen reflektieren, Fragen stellen. Wer sich inspirieren möchte, was das alles möglich ist, sollte mal bei dem amerikanischen Popkultur-Online-Magazin “Vulture” vorbeischauen. Die begleiten Serien mit spannenden und gut durchdachten Formaten.
Und wenn man eine Kritik auf Basis einer Pilotfolge schreibt, sollte man bedenken: Ein Pilot ist wenig aussagekräftig. Der soll die Serie bekannt machen, das Publikum reinschnuppern lassen, damit es weiterguckt. Die wirklich spannenden Themen, die interessanten Figuren, die besondere Erzählweise – all das lässt sich am Piloten meist noch nicht ablesen.
Ein vermeintlich kleiner Punkt ist mir außerdem wichtig: Bitte, bitte, liebe Kolleginnen und Kollegen: Schafft Transparenz! Schreibt in Eure Auftaktkritik, wie viel Ihr von der Serie gesehen habt. In den USA hat sich diese Transparenz längst zum Standard entwickelt: Man schreibt entweder in den Text oder unter den Text, auf wie vielen Folgen das Urteil basiert. Dann können Leserin und Leser Eure Kritik viel besser einordnen.

Frage 4: Wonach wählen wir aus, worüber wir schreiben?

Lars: Eine scheinbar banale Frage: Es gibt so viele Serien wie noch nie – wie wähle ich als Kritikerin oder Kritiker aus, über welche ich überhaupt schreibe? Das Problem stellt sich für Serienkritiker*innen anders als für andere Kritiker, denn bei uns fing es so einfach an: Damals, als es nur eine einzige Qualitätsserie gab, da schaute man die “Sopranos” und schrieb darüber – weil man sich so freute, dass es überhaupt diese einzige gibt. Andere Ausreißer kamen dazu – einzelne Serien, die viel anspruchsvoller waren als alles um sie herum. Wir dürfen als Kritiker*innen aber nicht den Fehler machen, immer noch so zu denken wie damals – als gäbe es nur genau die eine Ausnahme-Serie, über die zu schreiben sich lohnt. Denn wir haben inzwischen “Peak TV” erreicht. 487 englischsprachige Serien liefen 2017, ohne Soaps und Reality TV – das hat die Marktforschungsabteilung des Pay-Senders FX ermittelt. Dazu kommen viele europäische und jetzt auch mehr deutsche Produktionen. Kritiker*innen mussten jetzt aus einem Überangebot auswählen; dafür brauchen wir ganz andere Methoden und Strukturen als damals! Wir müssen uns gemeinsam überlegen, wie die aussehen sollten.
Ulrike: Ganz praktisch mache ich das zum Beispiel so: Ich gehe danach, welche Leute/Ideen ich spannend finde, diese Serien schaue ich an (oder schreibe sie mir auf die Liste). Außerdem habe ich im Blick, was die wichtigsten US-Kritiker*innen diskutieren, welche Screener sie gucken, was sie auf Twitter dazu schreiben. Das ist enorm hilfreich.

Ergänzung:
Eine kleine Liste an US-Kritikerinnen und -Kritiker, denen es sich auf Twitter zu folgen lohnt:
Emily Nussbaum – „The New Yorker“ – @emilynussbaum
Matt Zoller Seitz – „New York Magazine“, „Vulture“ – @mattzollerseitz
Maureen Ryan – bis vor kurzem „Variety“ – @moryan
Alan Sepinwall – „Uproxx“ – @sepinwall
Margret Lyons – „The New York Times“ – @margeincharge
Todd VanderWerff – „Vox“ – @tvoti
Zwei Lesetipps dazu:
1. Die „Vanity Fair“ hat zum Thema „Wie kommt man bei den unglaublich vielen Serien überhaupt noch hinterher?“ in der Mai-Ausgabe einen interessanten Text veröffentlicht: „Is Peak TV Slowly Killing TV Critics?“
2. Alan Sepinwall hat darüber geschrieben, wie wichtig es ist, auch die alten Serien zu schauen: „In Defense Of Watching Old Shows“Denn neben den vielen, vielen aktuellen Serien dürfen Kritiker*innen ja auch nicht die Klassiker und die Geschichte des Fernsehens vergessen.

 
(via Giphy)

Frage 5: Brauchen wir noch eine Unterscheidung zwischen Qualitätsserien und dem Rest?

Ulrike: Ich bin der Meinung: nein, die Unterscheidung ist längst nicht mehr nötig. Lars hat es eben schon gesagt: Die Zeiten des einen großen Prestige Dramas, das alle gucken und über das alle reden, ist längst vorbei. In Deutschland wird trotzdem oft immer noch zwischen Qualitätsserien und dem Rest unterschieden. Und wenn eine Serie den Stempel “Qualitätsserie” bekommen hat, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sich Journalistinnen und Journalisten mit ihr beschäftigen. Das finde ich schade! Denn es gibt viele tolle, innovative Serien da draußen, die es zu entdecken gibt. Seit einigen Jahren findet Innovation in Serien nämlich nicht mehr in den Drama-Serien der amerikanischen Premium-Kabel-Sender statt – da hängt zu viel Geld dran, das Risiko ist also zu hoch -, sondern in kleineren Produktionen mit halbstündigen Folgen, meist sogar Comedys. Da werden Genre-Grenzen ausgelotet, neue Erzählstile ausprobiert, Figuren entwickelt, die man bisher nicht gesehen hat. Und nicht zu vergessen: das nicht-amerikanische Ausland! In Europa tut sich einiges: in Großbritannien sowieso, aber auch Italien, Belgien, Spanien, und natürlich in Schweden, Dänemark, Norwegen. Genauso: Südamerika. Ausschau nach Serien zu halten, die etwas Neues ausprobieren lohnt sich doppelt, finde ich: Das ist einerseits aus der Serienkritikerinnen-Sicht sehr spannend und macht gleichzeitig großen Spaß beim Gucken.
Wir haben jeder ein Beispiel mitgebracht: meins ist Phoebe Waller-Bridge. Die Britin hat zwei Comedy-Serien in Großbritannien gemacht – die zweite war “Fleabag”, eine Ko-Produktion von BBC/Amazon. Jetzt gerade ist in den USA ihre dritte Serie gestartet: “Killing Eve”, eine Spionage-Serie von BBC America, in der eine Geheimagentin eine Auftragsmörderin jagt. Phoebe Waller-Bridge setzt hier das fort, was sie bei “Fleabag” angefangen hat: rücksichtslose Frauenfiguren zu entwickeln, die man so bisher noch nicht im Fernsehen gesehen hat.
Lars: Für mich ist Donald Glovers “Atlanta” die derzeit beste, innovativste, wagemutigste Fernsehserie. Nur ist die Serie formal eine halbstündige Comedy; außerdem erzählt sie kaum horizontal, die Folgen gleichen oft eher Fragmenten, Splittern, die manchmal fast unverbunden nebeneinander stehen. Die alten Kriterien der “Qualitätsserie” würde “Atlanta” also gar nicht erfüllen.

Frage 6: Warum reden wir bei Serien eigentlich fast nur über die Charaktere?

Lars: Mit der alten Kategorie “Qualitätsserie” hängen auch noch weitere Qualitätskriterien zusammen. Sie war sehr Charakter-zentriert, im Mittelpunkt stand ein Antiheld, eine so stark geschriebene Figur, dass sie den Zuschauer mitzieht, egal wie brutal, böse, zäh, kompliziert es wird (Tony Soprano, Walter White etc.) Aber ist das notwendig für eine gute Serie? Ich würde sagen: Nein! Und als Kritiker*innen sollten wir nicht zwanghaft stets den toll geschriebenen Protagonisten einfordern. Mein Gegenbeispiel: “Babylon Berlin”. Manche Kritiker warfen der Serie vor: Die Hauptfiguren lassen einen kalt, man fiebert nicht mit ihnen, sie sind einem nicht sympathisch, man will sie nicht kennenlernen. Ich würde sagen: Ja, aber das ist egal. Denn darum geht es bei “Babylon Berlin” gar nicht. Bei der Serie stehen nicht ein Character im Vordergrund, sondern, noch ein Anglizismus: World Building. “Babylon Berlin” ist sogar die erste deutsche Serie, die sich durch wirklich tolles World Building auszeichnet. Der Charme dieser Serie ist ihre Welt, also die Frage: Was ist da hinter der nächsten Ecke? Welche Orte, Unterwelten gibt es noch zu entdecken, wie sehen sie aus, welchen Regeln gehorchen sie? “Babylon Berlin” gehorcht da eher der Logik von “Game of Thrones” als der Logik der “Sopranos”. Wie durch ein Computerspiel oder auf einer aufregenden Landkarte navigiert man durch solche Serien. Character? Zweitrangig.
Ulrike: Es kann aber auch etwas ganz anderes sein. Bei „Legion“ zum Beispiel sind es weder die Charaktere noch das World Building, das die Serie hervorhebt. Showrunner Noah Hawley setzt hier auf sehr ungewöhnliche Bildsprache, er erzählt eine Superheldenserie inklusive Kämpfe zwischen Superhelden und Superheldinnen, wie ich sie so noch nie gesehen habe. Das ist verrückt, verwirrend und total faszinierend. Bedeutet hier aber auch: Die Charaktere sind schwer zu greifen, die Welt, die gezeigt wird, hat immer wieder neue Regeln – weil der Schwerpunkt eben woanders liegt.

Frage 7: Wie sollen wir mit Spoilern umgehen?

Ulrike: Spoiler. Ein riesiges Thema unter Serienguckenden: Wenn man schon mehr Folgen geschaut hat als der Gesprächspartner, die Gesprächspartnerin darf man auf keinen Fall etwas verraten, das zu viel vorwegnehmen würde. Leider hat sich in Deutschland aber noch nicht durchgesetzt, das auch bei jedem Text/bei jeder Podcastfolge zu bedenken. Ich stelle mir vor jedem Text die Frage: Sind Spoiler wirklich nötig für das, was ich sagen will? Wenn ja: kennzeichne ich den Spoiler. Und natürlich kommt er auf keinen Fall in der Überschrift oder im Teaser vor, sondern erst dann, wenn ich die Leserin/Leser oder Hörerin/Hörer davor warnen kann, sie also aus aussteigen können und den Teil überspringen können.
Wer das Wort “Spoiler” nicht mag – bei der „Zeit“ ist das ja zum Beispiel schwierig -, kann das gerne auch anders formulieren. Hauptsache, die Leserinnen und Leser sind gewarnt und ihnen wird nichts verdorben.


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Frage 8: Was wäre, wenn heute ein weißer alter Mann wie David Simon eine Serie über Schwarze machen würde?

Lars: Gemeint ist natürlich Simons “The Wire”, vielleicht die beste Fernsehserie aller Zeiten. Und die Frage ist natürlich etwas polemisch. Aber sie macht klar, worüber wir auch reden müssen: Politik. Die sogenannte Identitätspolitik. Vielleicht sogar die sogenannte “Politische Korrektheit”, auch wenn der Begriff tendenziös ist. Was hat das mit Serien zu tun? Serien sind in den letzten Jahren das Medium geworden, an dem beispielhaft verhandelt wird: Welchen Stimmen geben wir kulturell eine Plattform? Nur den privilegierten Stimmen? Oder bilden Serien die Vielfalt einer Gesellschaft ab? Immer wieder fragen Serienkritiker*innen: Wo sind die weiblichen Autorinnen, Regisseurinnen, Macherinnen? Die afroamerikanischen? Die mit Migrationshintergrund? Die queeren? Und es ist gut, dass wir in der Serienkritik so intensiv auf diese Fragen achten. Aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass wir hier eine große Verantwortung haben und die Zukunft nicht nur der Serienkritik prägen werden. Die Fernsehserie ist zum wichtigsten Medium des gegenwärtigen Kulturkampfes geworden – hier wird Identitätspolitik geformt. Das heißt: Wer darf welche Geschichte erzählen? Nur Frauen die von Frauen? Nur Afroamerikaner die von Afroamerikanern? Das sind die Debatten gerade in den USA. Deswegen die ketzerische Frage, über die wir diskutieren sollten: Würden wir heute David Simon und seine weißen Co-Autoren überhaupt noch dafür feiern, Geschichten aus den schwarzen Vierteln von Baltimore zu erzählen? Ich persönlich finde: Wir sollten uns noch mehr als zuvor dafür einsetzen, dass gerade die Serie ein Medium der vielfältigen Stimmen wird. Nicht nur aus politischen Gründen, auch aus ästhetischen – es scheint mir kein Zufall, dass eine brillante Serie wie “Atlanta” 2018 von einem Team afroamerikanischer Autoren kommt. Allerdings sollten wir nicht in einen Automatismus verfallen, wir sollten Serienkritik nicht engführen auf eine eindimensionale Identitätspolitik und jetzt plötzlich sagen: “The Wire” stammt von diesem alten weißen Mann, das kann also gar nicht so gut gewesen sein, wie wir immer getan haben! Ich glaube, das wäre ein Fehler. Da sollte man dann gelegentlich daran erinnern: Als Kritiker oder Kritikerin soll ich ja sagen, ob etwas gut oder schlecht geworden ist; nicht ob jemand irgendwas darf – das überlässt man manchmal besser den Lesern. Ich bin aber natürlich selbst ein weißer Mann, wahrscheinlich also nicht objektiv.
Ulrike: Eigentlich stimme ich Lars in den meisten Punkten zu. Aber, und da sind Lars und ich uns nicht einig, finde ich es schon wichtig, dass wir das Ganze nicht nur qualitativ, sondern auch quantativ betrachten. Denn: Wenn wir nicht zählen, wieviele Frauen hinter der Kamera beteiligt sind, ändert sich nie etwas. Wenn wir nicht zählen, wieviele lesbische Figuren nach der ersten Hälfte der Staffel sterben müssen, kommen keiner der Verantwortlichen auf die Idee, dass es hier offenbar ein Problem gibt.
Wenn wir keine Gedanken daran verschwenden, ob Minderheiten vorkommen oder nicht, verbauen wir uns die Möglichkeit, spannende Geschichten und Figuren kennenzulernen, die den Horizont derjenigen erweitern, die nicht zur Minderheit gehören und gleichzeitig denjenigen eine Möglichkeit zur Identifikation zu bieten, die der Minderheit angehören. Und jetzt mal ehrlich: Der weiße mittelalte Anti-Held ist als Figur doch längst ausgelutscht. Welchen interessanten Vertreter dieser Spezies gab’s denn seit Walter White? (Okay, es gab noch einen seitdem, der mich begeistert hat: Ed Blumquist aus der zweiten Staffel von “Fargo”, gespielt von Jesse Plemons. Aber der ist leider deutlich weniger bekannt.)

Frage 9: Können wir überhaupt objektiv über Serien schreiben?

Ulrike: Jeder Serien-Profi kann natürlich die lange Liste an Kriterien runterbeten, nach denen man eine visuelle Erzählung beurteilen kann. Denn ja, natürlich gibt es objektive Kriterien – die zum Beispiel Charakterentwicklung, Aufbau der Narration, den Schnitt, den Soundtrack, das Production Design, die Schauspielleistung und so weiter und so fort betreffen. Aber Serienrezeption geht darüber hinaus: Dadurch, dass Serien so stark auf emotionaler Ebene wirken, Menschen über Jahre hinweg viele, viele Stunden damit verbringen, die Figuren zu begleiten, spielt hier die persönliche Komponente eine größere Rolle als zum Beispiel beim Film. Und mit persönlicher Komponente meine ich sowohl die demografischen Daten als auch den Erfahrungshorizont der einzelnen Zuschauerin, des einzelnen Zuschauers: welches Geschlecht? Wie alt bin ich? In welcher Familiensituation lebe ich? Oder auch: Welche sexuelle Orientierung habe ich? Wo und in welcher Art von Familie bin ich aufgewachsen? Welche Erfahrungen habe ich in Beziehungen gemacht? Worüber lache ich? Das gilt für die Zuschauer und Zuschauerinnen, aber natürlich auch für die Kritikerinnen und Kritiker. Auf mich wirkt “Gilmore Girls” ganz anders als auf Lars. Ich dagegen kann mit “Louie” von Louis CK nichts anfangen (auch schon lange bevor bekannt wurde, dass er Frauen sexuell genötigt hat), ich finde die Figur schwer zu ertragen – weiß aber natürlich, warum die Serie so viele Menschen angesprochen hat und wie prägend Louis CK für die Comedy in den USA war.
Daher beantworte ich die Frage mit: Eine persönliche Komponente schwingt immer mit und dessen sollte man sich bewusst sein, wenn man sich journalistisch mit einer Serien auseinandersetzt.
Lars: Ich halte es dennoch für wichtig, dass wir niemals unseren Anspruch aufgeben, objektiv zu sein. Das heißt übrigens auch, dass wir manchmal scheinbar arrogant über den Geschmack anderer urteilen. Aber das gehört dazu. Ich möchte mir das Recht vorbehalten, auch Serien schlecht zu finden, die von sehr vielen Menschen geschaut werden. Und nur weil viele Leute sich immer noch “Big Bang Theory” ansehen, heißt das noch nicht, dass diese Serie für diese Zuschauer auch subjektiv, persönlich bereichernd ist. Manchmal schauen Leute auch Fernsehen, weil sie der trügerischen Hoffnung aufsitzen, das Programm würde ihr Leben schöner machen. Tut es aber gar nicht. Um tatsächlich Adorno zu zitieren, aus dem “Prolog zum Fernsehen”: “Richtig wünschen ist die schwerste Kunst von allen.” Deswegen wünschen sich Menschen oft genau das falsche Fernsehen. Kritiker*innen sollten das dann bemerken. Und widersprechen.

Frage 10: Freuen wir uns zu sehr auf deutsche Serien?

Lars: Der aktuellste Umbruch für uns Serienkritiker*innen: der Aufstieg der deutschen Serie (“Babylon Berlin”, “Dark”, “Bad Banks”). Auch das stellt uns vor neue Probleme: Können wir Kritikerinnen und Kritiker deutsche Serien vorurteilsfrei bewerten? Problem eins: Bisher hatten wir den Vorteil der Distanz. Bei HBO hat sich niemand für uns interessiert – auch nicht nach dem zehnten Verriss einer HBO-Serie. Das ist in Deutschland anders. Wir bekommen jetzt das gleiche “Nähe-Problem” wie alle anderen Kritiker: Kriegen wir keinen Zugang mehr zu Interview-Partnern, wenn wir eine Serie in Grund und Boden geschrieben haben? Können wir über eine Serie noch vorurteilsfrei schreiben, wenn man die Autoren persönlich gut kennt? Beeinflusst es uns, dass die PR-Leute so nett zu uns sind? Und so weiter. Wir müssen jetzt Strategien entwickeln, wie wir damit umgehen und immer unsere Distanz uns zurückerobern. Problem 2: Die deutsche Qualitätsserie – das ist irgendwie auch zu einer Art nationalem Gemeinschaftsprojekt geworden, nach all den Fehlschlägen. Wir wollen alle stolz sein auf die deutsche Serie! Aber: Wir sind keine Lobbyisten fürs deutsche Fernsehen. Wir dürfen uns nicht vereinnahmen lassen.
Problem 3: Das kann auch ins Gegenteil umschlagen. Riesige Erwartungen werden schnell enttäuscht und plötzlich werden wir hämisch, wenn es um deutsche Serien geht, die nicht so geworden sind, wie wir gehofft haben. Das war teilweise bei “Dark” der Fall. Sollten wir auch vermeiden! Die Abwägung is aber schwierig. Denn es ist ja gar nicht falsch, wenn Kritiker*innen deutschen Serien einen kleinen Bonus geben. Es ist ja auch für den Zuschauer toll, wenn er in der Serie auch seine Lebenswirklichkeit wiedererkennt. Natürlich macht das eine Serie interessanter.


(via Giphy)

Frage 11: Wie groß ist die Gefahr, dass wir Kritiker*innen Marketinginstrument sind? (Die Frage kam aus dem Publikum und zwar von Sebastian Schöbel. Wir fanden sie so interessant, dass wir sie in die Verschriftlichung unseres Vortrages aufgenommen haben.)

Lars: Ich glaube, dass Serienkritiker*innen aufpassen müssen, weil sich ihre Rolle geändert hat. Noch vor zehn Jahren waren sie nämlich tatsächlich auch Lobbyisten – und zwar Lobbyisten für das Medium Serie. Das war damals richtig so, finde ich. Jemand musste das Thema Serie in die Feuilletons tragen, Ressortleiter*innen von der Relevanz überzeugen, immer wieder erklären, warum jetzt auch Serien wichtige DIskursträger sind. Von dieser Rolle müssen wir jetzt aber Abstand gewinnen – Serien sind etabliert, die brauchen uns Kritiker*innen nicht mehr als Fürsprecher. Die brauchen uns als: Kritikerin und Kritiker. Wenn wir diese Veränderung nicht mitdenken, laufen wir tatsächlich Gefahr, zum langen Arm des Marketings zu werden.
Ulrike: Ja, die Gefahr ist groß, das gilt natürlich für alle Bereiche, in dem kulturelle Produkte verkauft werden. Besonders aber in den Bereichen, in denen sehr viel Geld damit umgesetzt wird – also Musik, Film und Serie. Bei Serien ist die Gefahr vielleicht noch etwas größer, weil hier das kulturelle Produkt oft sehr langlebig ist – Staffeln, die jedes Jahr neu veröffentlicht werden. Da ist es wichtig, immer wieder für Aufmerksamkeit zu sorgen. Und Redaktionen müssen aufpassen, dass sie nicht auf PR-Stunts reinfallen und zum Beispiel nicht jede noch so kleine Mini-News vom Set von „Game Of Thrones“ vermelden. Und ja, natürlich sind diejenigen, die PR für Serien machen, zu Kritikerinnen und Kritikern besonders freundlich, umgarnen sie, laden sie zu Setbesuchen und leckerem Essen ein, zu besonderen Previews mit guten Cocktails. Wie Lars weiter oben bei Frage 10 bereits beschrieben hat, hatten wir Kritikerinnen und Kritiker im deutschsprachigen Raum bisher das Glück, dass amerikanische Produktionsfirmen sich nur marginal für uns interessierten, die versuchte Umarmung bisher nur halbherzig war, ein Abstrafen für unliebsame Berichterstattung, wie man es aus anderen Branchen kennt, fast unbekannt. Doch dadurch, dass – wie Lars beschrieben hat – die deutschen Serienproduktionen aufholen, ändert sich auch das gerade: Die Umarmungen werden enger, der Versuch der Druckausübung ebenfalls. Im Fall dieser Frage finde ich es wichtig, dass wir uns immer vor Augen halten, welche Interessen in diesem Business mitspielen – dass für uns aber das wichtigste Interesse das der Leserin, des Lesers oder der Hörerin, des Hörers ist.

Unseren Vortrag gibt’s als Videomitschnitt:

Das Ziel unseres Vortrags auf der Media Convention: eine Diskussion zu entfachen über Serienkritik. Beim Vortrag selbst war keine Zeit dafür, aber hier ist jetzt der Raum für Diskussionen: Welchen wichtigen Aspekt würdet Ihr ergänzen? Wo stimmt Ihr uns zu, wo seid Ihr anderer Meinung? Schreibt es uns in die Kommentare!

 

 

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